Send to Kindle

London Euston

N'Abend,

London Euston ist einfach nur ein Bahnhof.

Bollocks!

London Euston ist ein Zoo. London Euston ist ein Schaumbad.

Nach 2 Pints im Pub bin ich eben in Euston angekommen. Ich stehe in der großen Halle und starre auf die Anzeigetafel. Um mich herum stehen, tratschen, sitzen, diskutieren, laufen, musikhören, schlendern, träumen, gucken, lesen und popeln etwa 500 Reisende. Ein ganz normaler Freitagabend.

Ich bin ganz sanft angetrunken und habe meinen "knips die Welt aus" Noise-Cancellation Kopfhörer auf und schon ist nichts mehr normal. Ich stehe mitten in einer Menge und doch sind um mich herum keine Menschen. Ich gucke in viele Gesichter und bin doch gar nicht wirklich da. Oder die Gesichter sind nicht da.

Ich glaube es hilft, daß keins der Gesichter den Blick beantwortet. Manche gucken kurz, aber das ist nichtmal eine flüchtige Berührung, nur ein unerwünschter Zufall. Die meisten Gesichter starren auf die Tafel, als ob der Zug auf einmal wegfahren würde, wenn man mal kurz nicht aufpasst. Die anderen sind in ihre Zeitung vertieft. Einige wenige reden sogar miteinander.

"Ethnic Diversity"

Vor ein paar Wochen war ich in Euston angekommen als mein iPod gerade den Underworld Mix von Goldies "Shadow" ausgesucht hatte. Ich war gerade durch eine verlassene Straße voller Mülltonen gelaufen und das kam mir damals geradezu unheimlich passend vor. Hoodies, Schlipse, Saris, Track Suits, dubiose Haartrachten, wirres Gepäck - London Euston ist voller Überraschungen.

Die Briten sind sehr stolz auf ihren toleranten Umgang mit Minderheiten. Nachdem man sich daran gewöhnt hat und einem die verschiedenen Sprachen, Farben und Kleidungen nicht mehr so auffallen merkt man, wie unterschiedlich selbst die Briten untereinander wirklich sind. An jedem normalen Tag sieht man in Euston mehr schräge Vögel herumlaufen als in einer Woche in jeder deutschen Stadt (soweit ich mich erinnern kann).

Man könnte fast denken, die Briten umgäben sich mit allerlei fremdem Volke um dann sagen zu können "seht' mal, wir sind so schräg, daß man uns trotzdem noch bemerkt!".

Not being in Euston

Heute bin ich wie gesagt nur physisch anwesend und wieder hat der iPod voll zugelangt, diesmal mit Underworlds "Juanita / Kiteless / To Dream of Love". Das Bier entfaltet langsam seine Wirkung und ich fühle mich immer mehr wie einer, der gerade ein Experiment beobachtet.

Vor 2 Stunden war ich in Victoria in die Tube abgetaucht, gemeinsam mit ein paar hunderten Leuten, die alle nur schnell nach Hause wollten. Ich fange an zu verstehen, wie man sich unter diesen Umständen einkapseln kann. Mit etwas Distanz und verlangsamter Wahrnehmung hat der Strom von Menschen fast meditative Qualitäten. Ich hätte gerne den Fluss auf den Rolltreppen gefilmt, am liebsten im Zeitraffer wie in "Koyaanisqatsi".

Nach einem Kurzbesuch im Pub mit Kollegen (Diskussion über Kapitalismus im UK und den Sozialismus französischer Prägung, theoretisch genug um surrealistisch zu sein) laufe ich mit, durch und gegen weitere Menschenströme zum Bahnhof. Die Stille im Kopfhörer hilft ungemein, ich bin tatsächlich nicht Teil des Stroms.

Ich experimentiere mit meiner Geschwindigkeit. Schneller gehen, Leute umschiffen und ein wenig anecken. "Sorry" auf beiden Seiten. Zu anstrengend und nicht interessant genug. Langsamer gehen, Leute vorbeiziehen sehen. Ich bin ein Hindernis, wie ein Blumentopf mitten im Weg. Wäre ich kleiner würde ich jetzt sicher weggedrängt. Besser.

Der Strom zieht mich nach London Euston, wo ich kurz nach ihm eintreffe. Hier wird nicht mehr geströmt, hier wird gewartet. Wo ich vorher zu langsam war, bin ich jetzt Aussenseiter, weil ich nicht mit der gleichen Ernsthaftigkeit warten kann. Zuviel zu sehen, fühle mich fast wie ein Kind.

Ich frage mich, wie Lilia das sehen würde und ich beschließe, daß ich ihr beibringen will, zu beobachten und darüber zu schreiben. Wie vermittelt man wohl einem Kind, wie wertvoll Geduld und Beobachtung sind? Und wie es die gewonnenen Eindrücke dann wieder loswerden kann?

Falls Lilia mich eines Tages nach Euston fragen sollte, werde ich sie an Goldie verweisen. "Shadow" ist für mich Euston, so wie Fresh Moods "Rythmbreeze" für mich mit Bergen und Sternen in Frankreich zu tun hat und mir Prefab Sprouts "Desire As" für immer Bergedorf in's Gedächtnis rufen wird.

Vielleicht wird eines meiner Kinder mal Musiker. Das fänd' ich gut.

Cheers,
Jan

Send to Kindle
< Speed Networking at Lancaster Uni
111 von 156
Betrunkene Waliser >
Berichte aus der Schweiz, England & Frankreich
blog comments powered by Disqus
jan-exner.de
Made with Kirby and