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Wenn einer eine Arbeit sucht

Hallo allerseits!

Gleich vorweg: Ich suche gar nicht wirklich dringend eine neue Arbeit. Meine aktuelle Stelle gefällt mir gut, und ich bin ja auch nachwievor davon überzeugt, daß die Übernahme durch Oracle viele neue Möglichkeiten erschließt.

Nur wurde ich irgendwann im März von einer kleinen Firma in Reading kontaktiert, die einen dreisprachigen Trainer suchten. Das Produkt hörte sich interessant an, das Interview verlief richtig gut, und auch das Geld wäre ok gewesen.

Leider ist aber Reading nicht so eine tolle Stadt, und für einen Job als Trainer wollten wir den Schritt nicht machen.

So viel dazu.

Bevor ich allerdings zum Interview gefahren war, hatte ich noch schnell meinen CV auf Monster auf den letzten Stand gebracht. Ich wollte einfach nur mal ausloten, ob ich dadurch Angebote bekommen würde, und was für ein Gehalt ich im Falle eines Falles verlangen könnte.

Reichlich!

Dieser Schritt führte zu einer wahren Flut von Angeboten. In den ersten Tagen danach musste ich tagsüber bei der Arbeit mein Taschentelefon abstellen, weil ich sonst gar nicht zum Arbeiten gekommen wäre.

Die meisten Jobs, muß man fairerweise sagen, waren was die Engländer "more of the same" nennen, also vergleichbar mit meinem aktuellen Job oder sogar nicht so gut. Die konnte ich natürlich einfach und schnell ablehnen.

Ein paar interessante Jobs allerdings waren dabei, unter anderem einer in Bonn und einer als Support Manager in London. Ersterer scheiterte am Zeitplan, der zweite jedoch war mir quasi auf den Leib geschnitten.

Das Telefoninterview mit dem CTO lief super, auch der Test per Web zum Thema "Linux Administration". Ein weiteres Telefoninterview mit zwei Technikern und dem COO war auch gut, also lud man mich nach London ein.

Bescheuert!

An dem Punkt waren Souad und ich bereits dabei, uns nach möglichen Wohnorten umzusehen um London herum, und wir wurden von allen Seiten entweder mit mitleidigen Blicken oder "Ihr seid ja verrückt!" Kommentaren bedacht. Die Leute hier im Norden haben für London und seine Bewohner nicht viel übrig...

Klar war aber, daß es da unten sehr, sehr, sehr, sehr teuer ist. Absurd teuer. Jenseits von normaler Vorstellungskraft teuer. Daher auch der Umstand, daß viele Leute morgens bis zu 2 Stunden mit der Bahn zur Arbeit fahren: Innerhalb von 20 Meilen um London kann man sich das Wohnen als Normalsterblicher nicht wirklich leisten, jedenfalls nicht in Vierteln, in denen man eine Tochter haben möchte...

Mancunians halten das für krank, und ich muß mittlerweile sagen, daß sie damit sicher nicht falsch liegen.

Zunächst aber lockte ein Grundgehalt von 70000 Pfund pro Jahr, und für sowas vergisst man ja gerne mal ein paar unangenehme Umstände.

So kam es also, daß ich an einem ansonsten gewöhnlichen Mittwoch um 10 in einen (verblüffend angenehmen) Zug nach London stieg.

The Tube

Dort angekommen stieg ich um in die U-Bahn, "the tube".

Kann ich nicht empfehlen, das Ding. Ich kannte U-Bahnen und Metro bisher nur aus Hamburg und Paris, wo sie einer Eisenbahn recht ähnlich sind und einen gewissen Platz bieten. Die Tube in London ist dagegen niedrig, schmal und eng. Sollte vielleicht lieber "Wurstpelle" heissen oder so. Unangenehm.

Die Leute in London sind auch unangenehm. Sie haben wegen der unglaublichen Masse von Pendlern und der Enge, die die Tube mit sich bringt eine Art individuellen Schutzschild entwickelt, d.h. sie tun so, als wären sie alleine. Man kann z.B. mitten in einer Menge von 200 Leuten, die alle auf eine grosse Anzeigentafel starren und warten, plötzlich einen Anzugträger erspähen, der ausgiebig und gründlich in der Nase popelt, als wär' sonst niemand da.

Und wenn man was sagt, gucken einen die Leute an, als wollte man ihnen Geld, Habe und Familie wegnehmen, während man in Manchester ohne Probleme mit jedem x-beliebigen Fremden über das Wetter, Fussball, Steuern, oder jedes andere x-beliebige Thema schwatzen kann, wann man will.

Das Interview

Ich bin 15 Minuten zu früh beim Büro und beschliesse, ein wenig zu warten. Um 10 vor 1 gehe ich dann rein, nur um nochmal 30 Minuten warten zu müssen, weil mein erster Interviewpartner noch nicht fertig ist. So richtig professionell sind die ja schonmal nicht. Hm. Ist halt 'ne kleine Firma, 150 Leute. Und in der Finanzbranche hat man ja auch nie wirklich Zeit.

Das Interview mit dem "Head of Services UK" läuft ganz gut, ebenso das mit dem CTO aus den USA. Es klickt zwar nicht so richtig (wie es das in Reading getan hatte, btw), aber schlecht läuft es auch nicht. So um 3 rum sollen noch der COO und der "Head of Office London" mit mir reden.

Der COO kommt rein und entschuldigt sich, er habe nur 10 Minuten und müsse dann zu einem Kunden. Ok, kann passieren. Der CTO käme dann später zum "wrap-up".

Wir quatschen 10 Minuten, dann geht der COO wieder und ich warte. Und warte. Und warte. Und warte. Nur weitere 10 Minuten später kommt mein erster Interviewpartner, der Head of Services, und sagt sowas wie "Das war alles, danke, und tschüss", schüttelt mir die Hand und ist auch schon wieder weg.

Zeitverschwendung

Meine Chefin und ich hatten vor nicht allzu langer Zeit mal eine Kandidatin interviewed, die am Telefon ganz gut geklungen hatte, dann aber beim Interview vor Ort absolut unpassend war. Die haben wir am Ende auch schnellstmöglich verabschiedet. Wenn man schon einen Fehler gemacht hat, dann soll man nicht auch noch Zeit damit verschwenden.

Genau so komme ich mir hier auch vor.

Ich informiere die Headhunterin, trotte und tube zurück zum Bahnhof, lasse mir mitteilen, daß ich gerne umbuchen könne auf den nächsten Zug, und daß das auch nur 50 Pfund kosten würde. Ich beschliesse, daß 1.5 Stunden früher zuhause nicht unbedingt 50 Pfund wert sind, kaufe mir ein Buch und stehe schlecht gelaunt in der Menge und lese. Ich bin versucht, das mit dem Popeln auszuprobieren, kann mich aber nicht durchringen.

Auf dem Rückweg im Zug lese ich mein Buch und frage mich, was genau wohl schiefgelaufen sein mag. War ich zu defensiv? Hat man mir angesehen, daß ich von der Idee "in London leben und arbeiten" nicht wirklich überzeugt bin, daß ich im Grunde jeden Tag um 5 zuhause sein will, meiner Tochter beim Aufwachsen zuzusehen?

Die Geschichte ist völlig überraschend noch nicht ganz zuende, denn am Freitag teilt mir die Headhunterin mit, das Feedback der Firma sei positiv ("strong candidate"), sie hätten nur noch zwei andere Kandidaten zu interviewen, um vergleichen zu können.

Ich frage mich jetzt, wie es wohl kam, daß ich das so falsch eingeschätzt habe, und ob ich da arbeiten will, wenn die so einen Umgang pflegen.

Nur eine Sache weiss ich sicher: Mit der Tube zur Arbeit? Nein Danke!

Cheers,
Jan

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