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Le Sommet Européen

Moin,

wieder einmal habe ich das ungeheure Glück, bei einem wichtigen Ereignis nicht nur Zuschauer zu sein, sondern auch noch mitten drin: Nice veranstaltet einen EU-Gipfel, und zwar ganz Nice, auch die Bewohner.

Es ist schwer zu sagen, wie die Stadt Nice wohl auf die Idee gekommen sein mag, sie könne ein solches Treffen abhalten, schwieriger ist aber noch zu erklären, wieso dafür Nice in ein Hochsicherheitsgefängnis verwandelt werden soll.

Ab heute, 0:00 Ortszeit, ist ein Bereich im Zentrum von Nice für Autos und Fußgänger gesperrt. Ja, auch für Fußgänger.

Es gibt eine rote und eine orangene Zone, in der roten darf sich niemand einfach so bewegen, Pierre z.B. wohnt gleich daneben, und er kommt vielleicht nur mit einem Ausweis zu seiner Wohnung, wird also ab Mittwoch nicht mehr zur Arbeit gehen, weil ihm das zu stressig ist.

In der orangenen Zone, die vom Flughafen bis nach Villefranche reicht, soll man mit erheblichen Behinderungen rechnen, und da wohnen wir. Der Weg zu unserer Wohnung wird zwar befahrbar sein, aber nur über eine einzige Spur der Promenade des Anglais hin und die Voie Rapide wieder zurück, also eher weniger empfehlenswert.

Tja, denkt man sich, wie können die sowas tun? Sind die nicht ganz dicht?

Nein, nein, man hat an alles gedacht: Parkplätze werden an den Ortseingängen geöffnet, und Busse kann man dann benutzen, um nach Hause zu kommen.

Klingt gut. In einer Hochglanzbroschüre, die wir immerhin schon vorgestern, drei Tage vor der Aktion, im Briefkasten fanden, wird alles näher erklärt, und da sieht man dann, daß es auf den Parkplätzen insgesamt ~2000 Plätze geben wird. Für eine ganze Stadt! Die Busse werden immerhin verdoppelt, aber ich glaube nicht, daß normalerweise nur 50% der Leute mit dem Auto fahren.

Wie dem auch sei, das Chaos ist vorprogrammiert. Letztendlich ist das nicht so schlimm, niemand wird meckern, wenn ich nicht zur Arbeit komme, und viele Nicoises werden bei Freunden und Bekannten außerhalb wohnen.

Ich dagegen werde mich an wenigstens einem Tag ins Chaos stürzen, um dann berichten zu können.

So viel zur Einleitung, hier nun der chronologische Bericht eines politischen Äquivalents zum Rinderwahn.

Montag, 4.12.2000

Die Polizei stellt auf der Nordspur der Promenade des Anglais erste Sperren auf, ansonsten ist der Tag ruhig.

Auf der Autobahn verkünden die Schilder schon seit Wochen, man solle zwischen 6. und 9.12. ruhig mit Staus rechnen und immer fleißig 107.7 hören, kennt man ja schon.

Dienstag, 5.12.2000

Nice > Sophia

Der Tag beginnt mit einem herzhaften Lacher: Im Radio hören wir eine Streikwarnung für die Eisenbahn, es gebe immer noch Verzögerungen wegen des Streiks gegen die Umstellung auf den Winterfahrplan.

An der Autobahnabfahrt Antibes herrscht totales Chaos, ob das aber schon ein Vorläufer des EU-Gipfels ist, oder an einer Konferenz über Risikokapital liegt, kann man schwer sagen.

Die Gegendemo am Mittwoch verspricht interessant zu werden, sie hat nämlich zum Beispiel noch keinen Ort für die Kundgebung gefunden.

Die Stadt hat eine Erklärung in einer (!) Zeitung drucken lassen, die ich Euch mal locker übersetzen werde:

"Oui, Nice accueille les 7 et 8 décembre le Conseil européen des Chefs d'État et de Gouvernement.
C'est une magnifique reconnaissance pour la Ville de Nice et chaque niçois ressent au fond du coeur un pincement de fierté. Mais ce sera aussi pendant quelques jours un considérable bouleversement dans les habitudes quotidiennes: périmètre inaccessible, quartiers sous surveillance, itinéraires interdits, stationnements réglementés, circulation difficiles, embouteillages inévitables, rallongements des trajets...
Efforçons-nous de prendre notre mal en patience, et sachons accepter avec calme ces perturbations inévitables pour démontrer les qualités d'accueil des niçois.
Le sommet restera dans l'histoire et Nice aura su sourire à l'Europe"

Signé : Ville de Nice.

Und das heißt:

"Ja, Nice empfängt am 7. und 8. Dezember die Teilnehmer des EU-Gipfels.
Dies ist eine große Ehre für Nizza, und jeder Nizzaner verspürt im Grunde seines Herzens einen gewissen Stolz. Aber es wird auch einige Tage lang das normale Leben umkrempeln: Gesperrte Bereiche, Viertel unter Überwachung, gesperrte Straßen, eingeschränkte Parkmöglichkeiten, schwierige Verkehrslage, unvermeidbare Staus, längere Fahrzeiten...
Strengen wir uns an, erdulden wir diese unvermeidbaren Störungen und zeigen wir die Gastfreundschaft Nizzas.
Der EU-Gipfel wird in die Geschichte eingehen, und Nizza wird sich von seiner besten Seite gezeigt haben"

Unterzeichnet: Stadt Nizza

Klingt das irgendwie komisch? Ja, tut es. Eric meint, das klänge überhaupt nicht französisch, sondern eher amerikanisch.

Sophia > Nice

Am Abend bin ich bei Alain zum Essen eingeladen. Während ich mich darüber freue, erst später den Weg ins Getümmel antreten zu müssen, fährt Bernhard unerschrocken die Rally Nice-Nord-Nice-Port mit. Er wird auf dubiosesten Umwegen zu uns geleitet, Grund genug für mich, gleich in Nice-Nord von der Autobahn zu fahren, dann per Einfallstraße ein wenig in Richtung Zentrum vorzustoßen und dann die Überquerung der roten Zone und die letzten 10 Minuten zu mir per pedes zu bewältigen.

Ich plane, irgendwo in der Nähe der Einkaufsstraße zu Parken, weil das nicht zu weit von mir entfernt liegt, und obwohl man da sowieso schon schlecht Parkplätze findet.

Außerdem ist das auch nicht zu weit von Pierre weg, den ich nach Hause bringen will, und weil wir beide nicht mehr absolut nüchtern sind, entscheiden wir uns gegen die Promenade und für Nice-Nord.

Als wir die große Einfallstraße fahren und uns der orangenen Zone nähern, fällt uns zuerst auf, daß weder Autos, noch Fußgänger noch Polizisten unterwegs sind. Naja, fast drei Uhr. Aber auch in der orangenen Zone sehen wir nicht einen Polizeiwagen. Komisch. Und als wir dann in die Rue Lepante einbiegen, sehen wir plötzlich mehr freie Parkplätze als geparkte Autos!

Seltsame Welt, wo mögen die wohl alle sein? Sollten die Warnungen tatsächlich so viele Einwohner vertrieben haben? Oder wird es morgen ganz schlimm? Wir checken dreimal nach, ob man auch wirklich einfach so da parken darf, wo ich stehe, aber scheinbar kann man.

Auf dem Weg nach Hause begegnen mir vor allem Straßenkehrer (französische Version, die haben einen Wasserschlauch, den sie überall anschließen können, um den Dreck wegzupusten) und nur drei Autos. Und selbst bei uns vor der Tür sind reichlich Parkplätze frei.

Verwundert lege ich mich schlafen, wie mag das wohl morgen aussehen...

Mittwoch, 6.12.2000, Nikolaus

Nice > Sophia

Ich stehe um 8 auf, weil ich mich mit Marie treffen will. Wir haben vor, inmitten des allgemeinen Chaos zu frühstücken.

Der Plan scheitert, denn es gibt kein Chaos!

Die rote Zone ist noch nichtmal gesperrt, die Promenade lässig befahrbar, Nice wirkt ein wenig wie ausgestorben, man sieht nicht übermäßig viel Polizei.

Auffällig sind die vielen weißen Baseballkäppies und Fahnen, die von ganz vielen Gewerkschaftern in Richtung Strand getragen werden, denn es gibt ja schließlich Gegendemos. Ganz nebenbei: Kann mir jemand sagen, was der Gipfel eigentlich genau kann?

Gerade lese ich, daß er vermutlich verlängert werden wird, von drei auf fünf Tage, also bis Sonntag. Ich bin mal gespannt, ob sich das irgendwie auswirkt in Nice, oder ob es so ruhig bleibt wie heute.

Sophia > Nice

Der Abend der großen Fragen:

Dies und noch viel mehr geht uns durch den Kopf, als wir nach einer ruhigen und sehr angenehmen Fahrt nach Hause (vorbei an Dutzenden und Aberdutzenden von Polizeiwagen) gleich bei uns um die Ecke parken (alles frei, irre!) und eine Bar betreten, die im Häuserblock nebenan liegt.

Die Gäste sind relativ alt und benehmen sich wie betrunkene Eltern, also so, daß es einem peinlich wäre, wenn man sie kennen würde. Erst viel später bemerkt Bernhard die roten Mützen auf einem Tisch: Gewerkschaftler!

Als die etwa 30 Gewerkschaftler weg sind, seufzt die Wirtin laut und verkündet den verbliebenen 7 Gästen, nun seien wir endlich wieder unter uns.

Donnerstag, 7.12.2000

Nice > Sophia

Um 8:15 brechen Bernhard und ich auf, Ziel ist die Überquerung der roten Zone und die Autobahnauffahrt Nice-Nord. Leider geraten wir sofort in eine Demonstration, die Überfahrt ist blockiert, also muß Plan B herhalten, Nice-Est.

Bis kurz vor die Autobahn geht es ganz gut, doch auf den letzten 500m erleben wir dann doch noch ein bißchen Stau. Ein paar überforderte Flics versuchen, den irren Andrang auf die relativ blöd gebaute Auffahrt zu regeln, 20 Minuten später sind wir durch.

Auf der Autobahn läuft es dann ganz gut, aber dafür fängt es an zu regnen. Mistwetter. Carine meint, so schlechtes Wetter hätte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen.

Die Behörden beglückwünschen sich derweil für die gute Verkehrsregelung und fragen sich, wo die ganzen Autos sind, offenbar war in Nice noch nie so wenig los wie gestern Abend.

Demos!

Offenbar ist aus der Demonstration gegen die Globalisierung mittlerweile ein handfester Krawall entstanden. Die Zeitungen berichten gegen Mittag von einer brennenden Bank (BNP, meine Bank!), 16 verletzten Polizisten, Tränengas und umgeworfenen Autos, alles auf dem Boulevard Saint-Roch, bei mir um die Ecke.

Außerdem gibt es Gerüchte, an der Grenze habe es eine Straßenschlacht gegeben zwischen der Polizei und Demonstranten.

Sophia > Nice

Nichts besonderes zu vermerken von der Rückfahrt. Ich bringe wieder Pierre nach Hause, und er zeigt mir erstens, daß die Voie Rapide problemlos befahrbar ist und zweitens die Auffahrt, auf der ich morgen wieder zur Arbeit fahren kann. Da das nicht besonders weit von ihm und mir entfernt ist, parke ich gleich an Ort und Stelle und wir gehen den Rest zu Fuß.

Beim Versuch, die rote Zone zu überqueren (Pierre wohnt quasi 'gegenüber'), werde ich zum allerersten Mal aufgehalten und muß einen anderen Weg nehmen.

Am Place Garibaldi, wo wir heute morgen wegen der Demo umgekehrt waren, werden vor mir zwei Leute kontrolliert, ich darf durch. Um den Platz herum stehen etwa ein Dutzend Mannschaftswagen der CRS (eine Art Militärpolizei, die stehen normalerweise am Flughafen), und auf der Wiese in der Mitte sitzt eine Kuh. Ja, eine echte, zumindest kaut sie vor sich hin.

Ansonsten ist Nice wie auch schon in den letzten Tagen schön leer und ruhig, sehr angenehm.

Freitag, 8.12.2000

Nice > Sophia

Ich stehe ein wenig später auf, um nochmal ein bißchen durch Nice zu flanieren, diesmal mit Pierre. Die Kuh ist noch da, ich kann sie also fotografieren. Ansonsten ist Nice weiterhin so leer wie die Fußgängerzone einer deutschen Durchschnittsstadt bei Nacht. Die Polizisten langweilen sich hauptsächlich, und sie sind wahrscheinlich froh, daß die Krawalle schon vorbei sind.

Ich werde interviewt zum Thema Umweltschutz, verstehe aber die Fragen nicht wirklich, weswegen wir dreimal neu anfangen. Am Ende scheint die Frau zufrieden zu sein, aber gesendet wird das sicherlich nicht.

Die eigentlich Fahrt zur Arbeit ist ruhig und problemlos. Von mir aus könnte es so bleiben.

Sophia > Nice

Alles ruhig, keine besonderen Vorkomnisse, Kuh noch da.

Samstag und Sonntag, 9. - 10.12.2000

Auch Samstag ist es ruhig, gegen Abend fahren Bernhard und ich auf einer leeren Autobahn nach Grasse.

Aus verschiedenen Gründen kehre ich erst am Sonntag wieder nach Nice zurück, und gerate dort in ein großes Verkehrchaos. Offenbar ist die Geduld aller Beteiligten am Ende. Autos überall, wildes Gehupe, und die mit der Regelung betrauten Polizisten haben einen bemerkenswert rüden Ton drauf, besonders an den Übergängen der roten Zone.

Die Kuh ist nicht mehr da, die Staatsoberhäupter diskutieren allerdings noch. Der Gipfel ist mittlerweile der längste in der Geschichte der EU.

Um 4h22 ist es endlich vorbei.

Montag, 11.12.2000

Dieses nicht wissend fahre ich den großen Umweg, ziemlich alleine, die meisten Leute scheinen doch morgens Radio zu hören.

Etwa 200 Lastwagen warten auf Parkplätzen außerhalb auf den Abtransport der ganzen Barrikaden, Einrichtungen und sonstiger Dinge, die Politiker müssen ausgeflogen werden, der Tag wird also in Nice wohl noch etwas stressig werden.

Die mit der Bewirtung betraute Firma hat am Sonntag schon ein Flugzeug mit Nahrungsmitteln einfliegen müssen, am späten Abend ist dann angeblich das 'gute' Essen ausgegangen und man stieg auf Sandwiches um. Vielleicht hat das ja das Ende des Gipfels beschleunigt...

Letztendlich ist es wohl ganz gut gelaufen, und alle sind froh, daß es jetzt vorbei ist. Bernhard prophezeit allerdings, daß der Bürgermeister von Nice nicht wiedergewählt werden wird. Das glaube ich auf der Stelle. Es gibt auch schon gegenseitige Beschuldigungen zwischen dem Bürgermeister und dem Präfekten der Region wegen der Krawalle.

Gerüchte bzgl. der beiden verhafteten Basken besagen, die eine habe einen Helm auf dem Kopf gehabt, während der andere ein Taschenmesser und einen Camembert im Rucksack gehabt haben soll. Freitag gab es wegen der Festnahme der beiden dann auch eine spontane Demo vor dem Justizgebäude, zu der viele Demonstranten mit Plastikmessern kamen.

Ansonsten wünsche ich allen frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins dritte Jahrtausend (kleiner Klugscheißereinwurf),
macht's gut,
Jan

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